Arbeit als Überleben in Odin den’ Ivana Denisoviča

Bakkalaueratsarbeit zum Thema

Arbeit als Überleben

in Odin den’  Ivana Denisoviča

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Eine Analyse von Lara Weber

Matrikelnummer: 0715163 
 
 
 
 
 
 

„Mir - Trud - Maj" Arbeit in der russischen Literatur und Kultur (612013)

Wintersemester 2010/ 11

Frau Dr. Zink Andrea

 

INHALT

 

 
 
1. Einleitung

Im Rahmen meiner Bakkalaureatsarbeit möchte ich mich mit dem Erstlingswerk Aleksandr Solženicyns Odin den’ Ivana Denisoviča beschäftigen.

Dieses Werk verdankt seine Veröffentlichung insbesondere den politischen Umständen zu Beginn der 1960er Jahre: Am 20. Parteitag der KPdSU im Jahr 1956 hatte der damalige Partei- und Staatschef Nikita Chruščev den Personenkult um Stalin offiziell verurteilt und somit einen wichtigen Schritt bezüglich einer Auseinandersetzung mit den Verbrechen Stalins gesetzt. Am 22. Parteitag im Jahr 1961 wurden alle Schriftsteller von offizieller Seite dazu aufgefordert, die Wahrheit nicht länger zu verschweigen. Daraufhin schickte Solženicyn das Manuskript seines povest’, der später Odin den’ Ivana Denisoviča heißen sollte (zu diesem Zeitpunkt trug er noch den Titel Shch-854) an den Herausgeber der als liberal bekannten, bedeutenden Literaturzeitschrift Novy Mir (Neue Welt), Alexandr Tvardovskij. Chruščev persönlich gestattete die Veröffentlichung und erklärte vor dem Parteipräsidium seine Begeisterung für das Werk Solženicyns. Natürlich konnte aber auch weiterhin nicht das gesamte Ausmaß der stalinistischen Säuberungen, Zwangsarbeit und Straflager angesprochen werden, was der weitere Verlauf von Solženicyns Karriere sehr deutlich zeigt.  

In meiner Arbeit möchte ich mich aber weniger den Umständen der Veröffentlichung oder der Person des Autors, als dem Werk selbst, widmen. Zu Beginn werde ich einen kurzen Abriss aus dem Leben des Autors geben, insbesondere, weil dieses mitunter eine wichtige Rolle für das Verständnis von Odin den’ Ivana Denisoviča spielt, sowie einige Parallelen und Divergenzen zwischen Werk und Leben aufzeigen. Im Besonderen möchte ich auf die Bedeutung der Arbeit in Odin den’ Ivana Denisoviča eingehen. Solženicyn beschreibt in seinem Werk einen nahezu glücklichen Tag eines Gefangenen in einem stalinistischen Arbeitslager. „Nichts war an diesem Tag schief gegangen. Fast ein Glückstag.“ (Solženicyn 1999: 189) 

Warum Solženicyn ausgerechnet einen aus dem Lageralltag herausragenden, guten Tag beschreibt, wird unter anderem damit begründet, dass die Darstellung eines subjektiv, für den Protagonisten, guten Tages, die wahren Ausmaße des Lebens in einem dieser Lager für den Leser wirkungsvoller und vor allem aufwühlender und schockierender sei, als die schonungslose Darstellung der alltäglichen Grausamkeiten, der Hoffnungslosigkeit und Leiden:

Solzhenitsyns choice of describing a better than average day allows him more emotional weight in convincing the reader just how bad things really were. (OQ1)

 
 
2. Biographie

Aleksandr Isaevič Solženicyn wurde geboren am 11. Dezember 1918 in Kislovodsk im nördlichen Kaukasus und starb am 3. August 2008 in Moskau. Solženicyns Vater starb 6 Monate vor der Geburt seines Sohnes, seine Mutter entstammt einer wohlhabenden ukrainischen Bauernfamilie. Während seines Studiums der Mathematik und Physik an der Universität Rostov, beginnt Solženicyn, sich für den Marxismus-Leninismus zu begeistern. Während des zweiten Weltkriegs ist er Befehlshaber einer Artillerieeinheit und wird für seine Tapferkeit geehrt. Im Februar 1945 wird er verhaftet und gemäß Artikel 58 des sowjetischen Strafgesetzbuches zu acht Jahren Dienst im Arbeitslager verurteilt. Die erste Zeit verbringt er in einem Lager, in dem sowohl politische Gefangene, als auch herkömmliche Kriminelle, also Mörder, Diebe und dergleichen, inhaftiert sind. Zu diesem Zeitpunkt ist sein Glaube an das kommunistische System bereits zutiefst erschüttert. Im Jahre 1950 wird der Autor in ein Sonderlager für politische Gefangene nach Kasachstan verbracht - die Erfahrungen dieser Zeit werden in Odin den’ Ivana Denisoviča reflektiert. Am Todestag Stalins wird Solženicyn freigelassen und auf Lebenszeit verbannt, so wie es zu dieser Zeit üblich war. Im April 1957 wird er offiziell rehabilitiert, seine Verbannung wird aufgehoben und er kehrt zurück in den europäischen Teil der Sowjetunion. 1962 wird Odin den’ Ivana Denisoviča in der Literaturzeitschrift Novy Mir veröffentlicht und von den Kritikern äußerst positiv aufgenommen. Im Vorwort zur Erstveröffentlichung der Novelle in der Zeitschrift Novy Mir, merkt der Chefredakteur Tvardovskij an, dass, obwohl die Botschaft von Odin den’ Ivana Denisoviča als eindeutig politische zu deuten sei und deshalb diese Veröffentlichung vor allem politisches Echo hervorrufen würde, sei doch auch auf den künstlerischen Aspekt des Werks, hinzuweisen (vgl. Falkenstein 1975: 6). 1964 kommt Leonid Brežnev an die Macht und mit ihm eine Straffung der ideologischen Zügel. Weiteren Werken Solženicyns wird die Publikation verboten. Den Nobelpreis für Literatur 1970 kann der Autor nicht persönlich entgegennehmen, denn er befürchtet nicht mehr in die Sowjetunion zurückkehren zu können. In der Folge der Veröffentlichung seines Romans Der Archipel Gulag (Archipelag Gulag) 1973 im Tamisdat und dessen Entdeckung des KGB wird Solženicyn aus der Sowjetunion ausgewiesen und lässt sich schlussendlich in Vermont nieder. Die Erstveröffentlichung einiger seiner Werke in der Sowjetunion erfolgt im Jahr 1989. Im Jahr 1990 erhält Solženicyn seine Staatsbürgerschaft zurück, er kehrt aber erst 1994 nach Russland zurück und lässt sich in Moskau nieder. Am 3. August 2008 stirbt der Autor. (vgl. Falkenstein 1975)

 
 
3. Begriffe

In diesem Abschnitt möchte ich gerne einige, für das weitere Verständnis meiner Arbeit wichtige Termini erklären.

GULag: (rus. Главное управление исправительно-трудовых лагерей и колоний, dt. Hauptverwaltung der Besserungsarbeitslager und -kolonien)

Unter GULag versteht man aber vor allem das umfassende Repressionssystem der Sowjetunion das zurückgeht auf die Zaren, die bereits Verbrecher nach Sibirien verbannt hatten und unter Stalin seinen Höhepunkt erreichte. (vgl. OQ3) 

Josef Stalin:

Stalins Alleinherrschaft vom Jahre 1927 bis zu seinem Tod 1953 war geprägt von Maßnahmen der Zwangskollektivierung, politischen Säuberungen, dem Personenkult rund um den Diktator und den Millionen von Todesopfern in dieser Zeit. Stalin ist auch maßgeblich für die Errichtung solcher Lager, wie sie in Odin den’ Ivana Denisoviča beschrieben werden, verantwortlich.

 
 
4. Die Entwicklung der Lager

Schon die Zaren bedienten sich der unendlichen Weiten Sibiriens, um politische Gefangene dorthin zu verschicken. Gemäß dem russischen Strafgesetzbuch von 1885 stellte die Katorga, also die Verbannung, die schwerste Freiheitsstrafe dar. Die Bol’ševiki versuchten dann das Thema der Katorga als Propagandamittel zu nutzen: Katorga stand für die Zarenherrschaft, es war also gut, dass man diese hinter sich gelassen hatte. Trotzdem wurden ab 1918 von Trockij Konzentrationslager für Andersdenkende eingeführt und unter der Herrschaft Stalins erreichte die Zahl der Inhaftierungen ihren Höhepunkt. Stalin errichtete zu einer effizienteren Nutzung der Arbeitskraft so genannte „Besserungsarbeitslager“, was als die Geburtsstunde des eigentlichen GULag gilt. Das Ziel dieser effizienten Nutzung der Arbeitskräfte wurde jedoch niemals wirklich erreicht. Bestes Beispiel dafür ist der Bau des Weißmeerkanals: Viele tausende Häftlinge arbeiteten im Winter unter widrigsten Bedingungen und mit äußerst spärlicher Ausstattung an diesem Projekt - nach Schätzungen starben circa 100 000 Häftlinge dabei. Nach dem Tod Stalins kam es zu einer Generalamnestie, sowohl für politische als auch unpolitische Häftlinge und Ende der fünfziger Jahre löste man sich komplett von den Lagern. Dennoch gab es auch unter Chruščev und Brežnev immer wieder Verfolgungen aufgrund politischer Motive (vgl. OQ4).

 
 
5. Genre: Lagertext und povest’

Lagertexte erlangten im zwanzigsten Jahrhundert traurige Berühmtheit und können wohl als eine „quasi russische Gattung“ bezeichnet werden (vgl. Zink: Seminarunterlagen WS10). Der erste Lagertext datiert aber weiter zurück: 1859 veröffentlichte Fjodor Dostojevskij seine „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“, in denen er den grausamen Alltag eines Häftlings darstellt. Dostojevskij schöpfte dafür aus eigener Erfahrung - auch er verbrachte vier Jahre (von 1849 bis 1853) in einem sibirischen Gefangenenlager. Hauptfigur und Erzähler der „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ ist der Adelige Alexander Petrovič Gorjančikov. Der Erzähler stellt emotionslos die Grausamkeit und Brutalität des Lagers dar und erreicht genau dadurch, den Leser zu schockieren und zu berühren (vgl. OQ4). Diese Art zu erzählen übernehmen viele Autoren nach ihm, um genau dieses Schockmoment beim Leser hervorzurufen. Ein wesentlicher Unterschied des Werks Dostojevskijs zu Odin den’ Ivana Denisoviča besteht darin, dass es sich bei der Hauptfigur, wie erwähnt, um einen Adeligen handelt. Dieser wird natürlich nicht gleich behandelt und in gleichem Maße zur Arbeit herangezogen wie seine Mithäftlinge. Dadurch entsteht einerseits ein anderer Blickwinkel („Blick auf das Volk“) als in Odin den’ Ivana Denisoviča („Blick aus dem Volk“), andererseits geht es in den „Erzählungen aus einem Totenhaus“ deshalb auch kaum um die Arbeit, die in Odin den’ Ivana Denisoviča eine wesentliche Rolle spielt (vgl. Zink: Seminarunterlagen WS10). 

Neben Dostojevskij widmeten sich auch andere bedeutende sowjetische Schriftsteller dem Thema des Lagers, wenn auch mit komplett unterschiedlichen Herangehensweisen und Ergebnissen: Anton Čechov reiste 1890 auf die Insel Sachalin um über die dortigen Gefangenenkolonien zu berichten. Er untersuchte aber nicht nur das Strafvollzugssystem dieser Zeit, sondern behandelte Kranke und führte eine Volkszählung durch (vgl. OQ3). 

Maxim Gorkij besuchte 1929 in offizieller Mission die Insel Solovki im nördlichen Eismeer. Sein Bericht ist mehr ein begeisterter Erlebnisbericht als eine kritische Berichterstattung der dortigen Zustände. Auch über den Bau des Weißmeerkanals schreibt Gorkij mit beschönigenden Worten. Er begeistert sich für den Enthusiasmus der Sträflinge und würdigt den pädagogischen Wert der Zwangsarbeit (vgl. OQ4). 

Im Jahr 1971 erschien Varlam Šalamovs Werk „Erzählungen aus Kolyma“ im Tamisdat in Frankreich und Großbritannien. Das Werk wird auch als „Enzyklopädie des Lagerlebens“ bezeichnet (vgl. Stelzl-Marx: 254), dies bezieht sich darauf, dass es sich nicht um eine zusammenhängende Erzählung handelt. Auch Šalamov hat viele Jahre in diversen Lagern verbracht. Er macht in seinen Erzählungen aus Kolyma klar, dass der Tod nur die letzte Konsequenz seelischer Verstümmelung und Dehumanisierung darstellt. (vgl. OQ4). 

Odin den’ Ivana Denisoviča wird von den meisten Autoren der Sekundärliteratur als povest’ bezeichnet. Diese, nur im slawischen Sprachraum existente, literarische Gattung wird in der Regel zwischen der Novelle und dem Roman eingeordnet und oft als Unterform des Romans bezeichnet (vgl. Zink: Seminarunterlagen WS10). Meist handelt es sich beim povest’ um historische oder biographische Erzählungen, wobei die Gattung natürlich nicht drauf beschränkt werden kann. Ein wichtiges Merkmal des povest’ ist die chronologische Abfolge der Ereignisse. Erzählt werden im Normalfall reale Ereignisse, wobei sich die Handlung um eine Hauptfigur, beziehungsweise um einen kleineren Kreis von Figuren, dreht. Es gibt keinen Höhepunkt, die Erzählung erinnert an die Eintönigkeit des Alltags. All diese Elemente können auch in Odin den’ Ivana Denisoviča wieder gefunden werden. In einem Sachwörterbuch der Literatur wird die Gattung des povest’ wie folgt definiert:

povest’  (zu russ. povedat’)

in russ. Lit. e. nicht genauer zu präzisierende, vielen Zwecken (Satira, Belehrung u. a.) offene Prosaerzählung, mittlerer Länge zwischen Erzählung, Novelle und Roman.

(Wilpert, Gero 2001 8.Auflage: 629)

In manchen Werken der Sekundärliteratur wird Odin den’ Ivana Denisoviča auch als Novelle bezeichnet. Dies liegt wahrscheinlich an dem Mangel einer adäquaten Übersetzung ins Deutsche infolge der Nichtexistenz der Gattung des povest’ in der westlichen Literatur.

 
 
6. Figuren

In dem Abschnitt über die Figuren möchte ich mir insbesondere die Fragen stellen: Wie sind die Figuren charakterisiert? Welche Verfahren der Figurenbeschreibung verwendet der Autor? Und welche Parallelen bestehen zwischen den Figuren und dem Leben des Autors? 

Viele der Figuren tauchen im Text nur kurz auf, sind aber weder individualisiert noch charakterisiert. Sie treten dem Leser nur vor Augen, wenn sie in Kontakt mit Ivan kommen. Manche werden etwas näher beschrieben, indem ihre Vorgeschichte (wie bei dem Kapitän) erwähnt wird oder indem Ivan seine Meinung über die Figur kundtut (wie bei Fetjukov), andere wiederum überhaupt nicht. Gewisse Figuren tauchen auch einfach auf, ohne besondere Relevanz zu haben, und verschwinden wieder, ohne dass ihre Geschichte in irgend einer Weise zu Ende erzählt wurde, beziehungsweise, ohne dass der Leser über die Funktion der Figur in der Handlung aufgeklärt wurde. Dadurch entsteht der Eindruck einer gewissen Willkür, mit der der Autor seine Figuren auftreten und wieder verschwinden lässt. Genau dadurch entsteht aber weiters auch das Gefühl, den Tag mit Ivan zu verbringen, ihn durch seine Augen zu sehen und empfinden.  

Ivan Denisovič selbst jedoch ist sehr wohl ausführlich charakterisiert. Er ist 41 Jahre alt und war Zimmermann in einem kleinen Dorf, hatte Frau und Kinder und diente während des großen Vaterländischen Krieges in der Roten Armee. Er wurde 1941 wegen Spitzelei verhaftet und verbrachte die ersten Jahre seiner Gefangenschaft in einem Lager in Ust-Ušma. Man erfährt gewisse Dinge über Ivans Familie, über sein Aussehen und seine Einstellungen. Der Autor selbst bemerkte folgendes in Bezug auf die Hauptfigur seiner Erzählung:

The figure of Ivan Denisovich (Shukhov) combines the traits of the soldier Shukhov, a man who had been the author’s comrade-in-arms during the war against Germany (and who had never been in prison), with the common experience of the camp inmates as well as with the author’s own experiences as a bricklayer in a Special Camp. (Klimoff 1997: 5)

Der reale Šuchov also war niemals Lagerinsasse, sondern einer der Soldaten in Solženicyns Batallion. Sowohl Details aus dessen Biographie, als auch dessen Art zu Sprechen dienten Solženicyn als Vorlage für seinen Ivan. Aber auch andere Mitgefangene Solženicyns flossen in die Figur des Ivan ein. Alle diese Aspekte wurden erweitert um persönliche Erfahrungen, Eindrücke und Gefühle des Autors, die er während seiner Zeit im Sonderlager gesammelt hatte. 

Nicht nur die Figur des Ivan Denisovič beruht teilweise auf realen Personen, auch einige der Mithäftlinge Ivans sind nachweislich Personen, denen Solženicyn in seinen Jahren als Häftling begegnet ist. Teilweise wurden die Namen geändert, teilweise aber auch beibehalten. Die Figur des Kapitäns Bujnovskij beispielsweise basiert auf Solženicyns Mithäftling Boris Burkovskij, Cesar Markovic, derjenige mit den vielen Essenspaketen, scheint dem Regisseur Lev Grosman angelehnt zu sein, und auch Aleša, der tiefgläubige Baptist, der immer und immer wieder die Bibel rezitiert, sowie Sen’ka, der Taube, sollen Solženicyn im Lager begegnet sein (vgl. Klimoff 1997: 7)  

Der Autor steht hier ganz in der russischen Erzähltradition. Besonders im 19. Jahrhundert verwendete man häufig reale Personen als Vorlage für literarische Figuren. Die Aufgabe des Autors sah man weniger in der Erschaffung und Gestaltung einer fiktionalen Welt, sondern der Autor sollte das Leben seiner Vorlagen so ordnen, an die Bedürfnisse seines Werks anpassen und in gewissem Sinne sogar neu erfinden, dass am Ende eine ästhetisch vollkommene Figur entstehe (vgl. Klimoff 1997: 7). 

Auf den Vorwurf eines Journalisten, Odin den’ Ivana Denisoviča sei ausschließlich autobiographisch, antwortete Solženicyn wie folgt:

 
There is nothing I can do about it, for I can really see no task higher than serving reality, that is, recreating a reality trampled, destroyes, and maligned in our country. I do consider invention as such to be my task or goal, and I never seek to dazzle my readers with my fancies. For a writer, invention is simply a means of concentrating reality. (Klimoff 1997: 7)

 
 
7. Raum

Odin den’  Ivana Denisoviča spielt in einem so genannten Sonderlager in Zentralkasachstan. Die Landschaft dort wird dem Leser als sehr unwirtlich beschrieben. Es herrscht dort extremes kontinentales Klima, also extreme Temperaturunterschiede – heiße Sommer und extrem kalte Winter. Odin den’ Ivana Denisoviča spielt im Winter und auch dieser eine Tag der erzählt wird ist ein sehr Kalter. Landschaft und Klima gleichen dem Lager, auch dort herrscht eine raue, unmenschliche Atmosphäre. Es erklärt sich von selbst, dass der dem Leser vermittelte Eindruck ein Anderer wäre, spielte Odin den’ Ivana Denisoviča an einem sonnigen, warmen, und somit schon gleich viel angenehmeren Platz der Erde.  

Auch der Schauplatz weist Parallelen zum Leben des Autors auf: Solženicyn verbrachte seine Zeit im Sonderlager in Kasachstan, Odin den’ Ivana Denisoviča spielt irgendwo in Zentralasien.

 
 
8. Zeit

Erzählgegenwart ist der Jänner 1951, also die späte Stalinzeit. Die Erzählzeit bemisst sich am Seitenumfang und beträgt 190 Seiten in der deutschen Fassung, und 128 Seiten in der Russischen. Die erzählte Zeit lässt sich sehr genau eingrenzen und ergibt sich bereits aus dem Titel des Werks: Ein Tag im Leben des Ivan Denissowitsch. Der Tag beginnt mit dem Wecksignal und endet mit den letzten Gedanken Ivans kurz vor dem Einschlafen.  

Die Erzählung lässt sich in drei Teile gliedern: Die Zeit vor der Arbeit außerhalb des Lagers, die Tagesarbeit, und die Zeit nach der Arbeit, vor dem Nachtappell (vgl. Kern 1977: 5-30). In gewisser Weise ist der Tagesablauf symmetrisch aufgebaut. In der Früh der Morgenappell, am Abend der Nachtappell; Aleša betet am Morgen, und wieder am Ende des Tages; Bujnovskij wird am Morgen zum Bunker verurteilt, und am Abend dorthin abgeführt; Ivan kriecht aus seinem Mantel der ihm als Decke dient am Morgen, und am Abend hüllt er sich wieder damit ein; die Männer marschieren zum Kraftwerk, und am Abend wieder zurück – diese Liste ließe sich noch erweitern. Die einzige Szene, die nach diesem Schema keinen Gegenpol hat, ist die Arbeit an der Mauer und könnte deshalb als der Höhepunkt gesehen werden.  

Zeit hat im Lager insofern eine Bedeutung, als auch sie großteils von den Vorgesetzten bestimmt wird: Grundsätzlich richtet sich der Tagesablauf im Lager genau nach den Befehlen der Vorgesetzten - sie bestimmen den Rhythmus des Lagers. Die Häftlinge bekommen nie eine Uhr zu Gesicht, sie können sich höchstens auf den Sonnenstand oder die Temperatur – und zwar die Gefühlte, denn auch das Thermometer scheint „getürkt“ zu sein – berufen, um herauszufinden, wie spät es ist, und sogar auf althergebrachte Weisheiten scheint kein Verlass mehr zu sein:

Sie hörten, wie einer sagte, es sei schon zwölf. „Muss wohl sein“, meinte Schuchov. „Die Sonne steht direkt über uns.“

„Wenn sie senkrecht über uns steht“, rief der Kapitän, „so bedeutet das, dass es eins ist, nicht zwölf.“

„Wie denn das?“ fragte Schuchov. „Jeder alte Mann kann dir sagen, dass die Sonne um zwölf am höchsten steht.“

„Das sagen eben die alten Leute!“ belferte der Kapitän. „Aber inzwischen ist ein Gesetz erlassen worden, und nun steht die Sonne um eins am höchsten.“

„Wer hat das Gesetz erlassen?“

„Die Sowjetregierung!“ (Solženicyn 1999: 80)

Sogar auf so etwas scheinbar Unveränderliches wie Zeit kann also die Sowjetregierung Einfluss nehmen. Hier zeigt sich schön, dass Solženicyn nicht nur sehr konkret das (Über)Leben in einem stalinistischen Lager schildert, sondern gleichzeitig immer wieder auf Entwicklungen in der gesamten sowjetischen Gesellschaft und ihre Auswirkungen Bezug nimmt.  

Ein anderer Aspekt der Zeit wird im Zusammenhang mit der Strafzeit erwähnt: Mit jeder Minute des Tages vergeht auch eine Minute der Strafzeit. Diese stetige Reduktion der Strafzeit hat aber insofern nichts Positives, als die Strafzeit nichts Fixes, Endgültiges, wie sie es vielleicht in unserer Vorstellung ist, darstellt. Im Normalfall ist davon auszugehen, dass man nach Abbüßen seiner Strafe entlassen wird. In sowjetischen Zeiten aber - und ich glaube es erklärt sich von selbst, dass dies nicht nur dort und in jenen Zeiten geschah, sonder auch heute noch in verschiedenen Teilen der Welt geschieht – wurden die Strafzeiten unter Vorwänden willkürlich erhöht, oder man wurde einfach nicht freigelassen, ohne jeden Grund und ohne die Strafzeit offiziell zu verlängern. Auch Ivans Einstellung zu seiner eigenen Strafzeit, die ja bereits zu einem Großteil verbüßt ist, ist nicht eindeutig. Einerseits glaubt er nicht daran, dass er jemals freikommt, andererseits kann man immer wieder kleine hoffnungsvolle Momente entdecken. Trotz allem aber hat Ivan seine Zweifel, ob er überhaupt in einer Gesellschaft wie der, zu der sich die Sowjetische entwickelt hat, bestehen könnte. Dies merkt man vor allem in der Szene, in der er über die neue Arbeit in seinem einstigen Heimatdorf spricht. Er erzählt von einem Brief seiner Frau, in dem sie ihm erzählt, dass die meisten Leute in seinem Dorf jetzt ihr Geld mit Teppichmalen verdienen. Ivan kann sich das nicht vorstellen und kann auch nichts Gutes daran finden (vgl. Solženicyn 1999: 57):

Sah aus [das Teppichmalen] wie ein leichter, bombensicherer Weg, Geld zu machen. Und es wäre sicher falsch, wenn er nicht mit den anderen Männern im Dorf Schritt hielt. Aber tief im Innern wollte Iwan Denissowitsch mit diesem Teppichgeschäft nichts zu tun haben. Man musste reichlich viel Unverschämtheit haben und wissen, wen man schmieren musste. Schuchov wanderte nun seit vierzig Jahren auf dieser Welt herum. Er hatte die Hälfte seiner Zähne eingebüßt und wurde allmählich kahl. Er hatte noch nie jemand bestochen und sich von niemand bestechen lassen, und er hatte diesen Trick auch in all den vielen Jahren im Lager nicht gelernt. Leichtverdientes Geld ist nichts wert und gibt einem nicht das gute Gefühl, das man hat, wenn man sich’s ehrlich verdient. Wie das alte Sprichwort ganz richtig sagt: Zahlst du redlich, bekommst du auch den vollen Gegenwert. (Solženicyn 1999: 57)

Grundsätzlich lässt sich von einer chronologischen Abfolge der Ereignisse sprechen, die immer wieder durch kurze Rückwendungen in Form von Erinnerungen der Hauptfigur unterbrochen wird. Eine dieser so genannten Analepsen findet man an der bereits oben zitierten Stelle, in der sich Ivan an den Brief seiner Frau, der schon einige Zeit zurückliegt, erinnert. Weiters erzählt Ivan von der Zeit bevor er ins Sonderlager kam – also in der er noch im normalen Arbeitslager war (vgl. Solženicyn 1999: 83) sowie von seiner Verhaftung (vgl. Solženicyn 1999: 82).

 
 
9. Stimme

In diesem Kapitel möchte ich mich der Erzählinstanz in Odin den’ Ivana Denisoviča widmen, mich also fragen, wer spricht den Erzähltext?

In einem Sachwörterbuch der Literatur wird der Skaz wie folgt definiert:

Skaz (russ., von skazat’ = erzählen), Gattung der russ. Erzählkunst: Rahmenerzählung als gerahmter, fiktiv mündl. Augenzeugenbericht, der dazu dient, in der Binnenerzählung die Ablösung der verbindl. russ. Literatursprache zugunsten der lebendigen Volks- und Umgangssprache mit exakten Mundartformen, Provinzialismen, Volksetymologien, individuellen Besonderheiten usw. zu rechtfertigen, und die Erzählung durch das Prisma volkstüml. Erzählperspektive und e. angemessenen Sprachwelt bricht. Von N. Gogol’ gepflegt, von Leskov in fast allen seinen Novellen zu bes. Höhe entwickelt. (Wilpert, Gero 2001: 761) 

Beim Skaz wird also eine Sprache imitiert. Tendenziell ahmt der Erzähltext dabei eher eine sozial niedrigere Sprache nach, wodurch Ironie entsteht. Der Erzähler versucht also, die Sprache des Lagers, den Lagerslang nachzumachen. Trotzdem ist der Erzähler aber weder eindeutig Šuchov, noch der Autor selbst. Der Erzähler befindet sich zwar im Lager, kann aber Dinge wahrnehmen, die Ivan nicht wahrnimmt.

«Цезар [...] же с чудаком в очках, который  в очереди все газету читал:

- Аа-а! Петр Михалыч! [...] Тот чудак:

- А у меня «Вечерка» свежая, смотрите! [...] И суется Цезар в ту же газету. А под потолком лампочка слепенькая-слепенькая, чего там можно мелкими буквами разобрать?

- Тут  интереснейшая рецензия на премьеру  Завадского! ... Они, Москвичи, друг  друга издаля чуют, как собаки. И, сойдясь, все обнюхиваются, обнюхиваются по-своему. И лопочут  быстро-быстро, кто больше слов  скажет. И когда так лопчут, так редко русские слова попадаются, слушать их – все равно как латышей или румын. (Solženicyn 1970: 103)

An diesem Beispiel lässt sich sehr gut die soziale Markierung einzelner Passagen festmachen (kursiv geduckt). Ivan scheint wohl nie Zeitung gelesen zu haben, denn ihm scheint es schier unvorstellbar, solche kleinen Buchstaben entziffern zu können. Wenn Cesar und sein Freund über Kunst sprechen, versteht Ivan nicht einmal ihre Sprache, für ihn klingt es „als ob sich Letten oder Rumänen unterhalten“. Hier erkennt man auch deutlich die Ironie, mit der der Autor arbeitet. 

Je nachdem welcher Erzähler gerade spricht, gibt es natürlich auch Unterschiede in der Sprache.

 
 
10. Modus

Durch den Modus werden der Grad der Mittelbarkeit, also die Distanz zum erzählten Geschehen, sowie die Perspektivierung des Erzählten, die Fokalisierung, ausgedrückt. Es handelt sich bei Odin den’ Ivana Denisoviča um einen Erzähler in der dritten Person. Die Wahrnehmung ist zu einem großen Teil an die Wahrnehmung Ivans gebunden, das Bewusstsein Ivans dominiert den Text. Dadurch entsteht die von Dunn so bezeichnete „Von-Innen-Heraus-Perspektive“. Demnach gebe es keinen vermittelnden Erzähler. Die Gedanken und Empfindungen werden scheinbar unbehandelt, ohne Erzählervermittlung, weitergegeben (vgl. Dunn 1988:64) und dem Leser der Eindruck vermittelt, Ivan führe ihn wie einen Besucher im Lager herum, erzähle ihm von seinem Alltag und kläre ihn über alles auf, was er als „Neuling“ in einem Lager so wissen müsse.

 
 
11. Hauptthemen

In Odin den’ Ivana Denisoviča wird die zerstörerische Wirkung des Lageralltags angesprochen und Auswege aufgezeigt, die insbesondere Ivan, aber auch die anderen Häftlinge gefunden haben, um dieser Zerstörung entgegenzuwirken. Als Hauptthemen habe ich diejenigen herausgegriffen, die besonders anfällig für eine solche Zerstörung durch den Lageralltag sind.  

Der Lageralltag zerstört: die Werte des Individuums (die Menschlichkeit und Moral), die zwischenmenschlichen Beziehungen (die zwischenmenschliche Solidarität) und die soziale Ordnung. 

Die Darstellung dieser Zerstörung ist aber nicht auf die konkrete Lagersituation beschränkt, sondern es werden immer wieder Blicke auf die gesellschaftliche Situation außerhalb dieser in sich abgeschlossenen Lagerwelt geworfen, unter dem Hinweis, dass auch die sowjetische Gesellschaft nicht von dieser Zerstörung verschont bleibt. Im Zusammenhang damit werden unter anderem die Politik der KPdSU, die Kunst und die Religion angesprochen.

11.1. Werte des Individuums, Menschlichkeit und Moral

Die Häftlinge werden nicht nur physisch ihrer Kräfte beraubt, sondern vor allem psychisch gemartert und demoralisiert. Ihnen wird jegliche Individualität genommen und dem Einzelnen verbleibt keinerlei eigener Entscheidungsspielraum. Diese Degradierung des Menschen erfolgt durch viele verschiedene Mittel, ich werde hier nur einige davon nennen:  

Alle Häftlinge werden bei Ankunft im Lager „nummeriert“. Diese Nummern müssen gut sichtbar an der Kleidung getragen werden und die Häftlinge werden mit diesen Nummern gerufen. Die Nummern sind auch Ausdruck der Hierarchie im Häftlingssystem: Je besser sichtbar die Nummer getragen wird, desto niedriger der Rang im Lager. Der Sanitäter Vdovuškin beispielsweise hat zwar eine Nummer wie jeder andere auch, diese ist jedoch nicht sichtbar an seiner Kleidung. Ivan trägt die Nummer Sh-854. Von den Vorgesetzten werden die Häftlinge in der beleidigenden Du-Form (ty) angesprochen, sie müssen jedoch mit der Höflichkeitsform (vy) antworten.  

Grundsätzlich spielt das Tiermotiv eine nicht unbedeutende Rolle, auch die Häftlinge vergleichen sich gegenseitig mit Tieren oder beschimpfen sich mit Tiernamen. Ein weiteres Mittel, den Häftlingen jegliche Würde und Selbstachtung zu rauben ist, sie wie Tiere zu behandeln. Sie werden beispielsweise wie ein Rudel Tiere zur Baustelle „getrieben“ und werden dabei von Hunden bewacht, wie eine Herde Rinder. Das Beachtenswerte dabei ist, dass diese Behandlung die Häftlinge selbst dermaßen beeinflusst, dass sie sich auch wirklich wie Tiere zu verhalten beginnen. Dieses triebgesteuerte Verhalten ist besonders gut beim Essen erkennbar. Dort wird ohne jegliche Manieren das Essen in sich „hineingestopft“, die Schüsseln der Anderen ausgeleckt und Essen gestohlen.

11.2. Zwischenmenschliche Beziehungen und Solidarität

Wie bereits angesprochen, wirkt sich das Verhalten der Vorgesetzten zu den Häftlingen auch auf deren Beziehung zueinander aus. Die Verhaltensmuster der Vorgesetzten werden von den Häftlingen übernommen, die Degradierung sitzt so tief in ihrem Bewusstsein, dass sie dieselben Degradierungsmittel selbst verwenden zu beginnen. Wärter sprechen die Häftlinge beispielsweise grundsätzlich mit ihren Nummern an. Dieses Verhaltensmuster wird unbewusst von den Häftlingen übernommen - auch sie sprechen sich teilweise mit ihren Nummern, beziehungsweise in der ty-Form an.  

Im Lager herrscht das Motto „Jeder ist sich selbst der Nächste“, trotzdem ist die Gemeinschaft in einer Brigade ein wichtiger Aspekt im sozialen Leben eines Häftlings. Sie ist wie eine Familie, alle müssen mit anpacken, denn immerhin hängen die Essensrationen von der Leistung der gesamten Brigade ab (vgl. Solženicyn 1999: 75). Aber auch innerhalb einer Brigade gibt es diejenigen, die mit Hochachtung und Respekt behandelt werden, und diejenigen, denen man mit Misstrauen und Antipathie entgegentritt (wie Fetjukov, dem Schakal). Die Fähigkeit, überhaupt noch irgendetwas für die Mithäftlinge zu empfinden, ist schon ein Zeichen, dass die Zerstörung noch nicht allzu weit fortgeschritten ist. 

Je mehr sich aber die Häftlinge gegenseitig wie Verbrecher begegnen, sich gegenseitig unmenschlich und respektlos behandeln, desto mehr degradieren sie sich damit selbst. Wenn aber ein Häftling sich gegenüber seinen Mitmenschen respektvoll verhält, wird er diesen Respekt in gewisser Weise auch zurückbekommen und sich so seine Selbstachtung erhalten.

11.3. Die soziale Ordnung

Bereits zu Beginn von Odin den’ Ivana Denisoviča heißt es: „Hier herrscht das Gesetz der Taiga“ (Solženicyn 1999: 18). Übliche gesellschaftliche Regeln haben im Lager keine Geltung. Die Gesetzlosigkeit des Lagers drängt die Häftlinge so natürlich in eine vollkommen machtlose Position. Die Gesetze des Lagers (so wie auch die sowjetischen Gesetze vgl. Solženicyn 1999: 80) werden willkürlich erlassen, abgeändert und entbehren meist jeglicher Sinnhaftigkeit. So gibt es zum Beispiel die vollkommen sinnlose Regel, dass sich die zeki nur in Gruppen von Vier bis Fünf im Lagergelände bewegen dürfen (vgl. Solženicyn 1999:153). Hier zeigt sich wieder ganz deutlich, dass dem Individuum jede Individualität genommen wird, und es nur mehr um die Gruppe geht. Weiters werden die Haftzeiten willkürlich verlängert, oder die Häftlinge einfach nach Abbüßen ihrer Strafzeit nicht freigelassen (vgl. Solženicyn 1999: 81). 

Ein ironisches Moment erhält die Enthüllung der Gesetzlosigkeit dadurch, dass Ivan behauptet, es gehe in diesem Lager noch ziemlich ordentlich und gesittet zu, im Vergleich zu vielen anderen (vgl. Dunn 1988: 40).

 
„Macht euch nichts vor, Jungs, hier ist’s einfacher“, sagte er in seiner drolligen Art […] „Hier macht ihr jeden Tag um dieselbe Zeit Sense. Norm erfüllt oder nicht - Einrücken ins Lager. Und die Grundration 200 Gramm. Man kann leben. Was ist also Sonderlager? Stören euch die Nummern? Oder? Die zählen doch nichts.“ (Solženicyn 1999: 84)

Es soll aber nochmals darauf hingewiesen werden, dass alle diese Entwicklungen, im Speziellen auch die Willkür, mit der Gesetze erlassen wurden, nichts dem Lager Eigenes ist, sondern vielmehr eine allgemeine Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft darstellt. Lager und Gesellschaft stehen so in enger Verbindung miteinander.

11.4. Auswege

Ich habe hier versucht, alle Motive zu sammeln, wie die Häftlinge ihre eigenen Auswege aus der zerstörerischen Wirkung des Lageralltags finden. Natürlich gibt es einige, die sich keinerlei Ausweg bedienen, diejenigen werden dann sozusagen vom Lageralltag „aufgezehrt“ und werden ihre Haftzeit möglicherweise nicht überleben. Sehr treffend formuliert dies Ivans ehemaliger Brigadier Kusemin, ein abgebrühter Lagerhase, an dessen Worte sich Ivan ganz zu Beginn er Erzählung erinnert: „[…] Zuerst kratzen die ab, die die Fressnäpfe auslecken, die aufs Krankenrevier rechnen oder die einen verpfeifen.“ (Solženicyn 1999: 18) Alle jene, die sich ihrer Menschlichkeit berauben lassen, jene die jegliche Moralvorstellungen und Werte ablegen, jene die sich selbst zu Tieren machen lassen und sich nur mehr von ihren Trieben leiten lassen, diejenigen werden also das Lager nicht lebend verlassen. Möglicherweise können sie das Lager überleben, körperlich, aber auf geistiger Ebene werden sie auf jeden Fall innerlich absterben.  

Das, worauf die Aussage Kusemins anspielt, möchte ich das Gesetz des Lagers nennen. Ivan kennt das Gesetz des Lagers, er weiß wie er sich verhalten muss, um zu überleben. Er weiß, dass er sich beim Filzen, bis auf die Unterhose ausziehen muss, wenn es von ihm verlangt wird, sei es auch gegen das Gesetz, wie Bujnovskij erklärt und sich damit zehn Tage im Bunker einhandelt (vgl. Solženicyn 1999: 49). Er weiß auch, dass er sich höflich verhalten muss, wenn ihn ein Wärter alleine auf dem Lagergelände sieht, und er weiß, dass er sich seine Nummern auf der Kleidung nachmalen lassen muss, auch das könnte ihn in den Bunker bringen, der wiederum könnte ihm den Tod bringen.  

Besonders Ivan versucht, gewisse Regeln des zwischenmenschlichen Umgangs beizubehalten und seine Mithäftlinge mit Respekt zu behandeln. Dadurch kann er sich seine eigenen Moralvorstellungen erhalten und behält seine Selbstachtung. Ein gutes Beispiel dafür ist die Art, wie er seine Mithäftlinge adressiert: Er spricht niemanden mit seiner Nummer an, und vermeidet auch das meist abfällig und respektlos gebrauchte ty. Mehr noch, Ivan spricht seine Kollegen mit Vorname und Vatersname an, was als eine überaus respektvolle Form der Anrede gilt.  

Ivan entzieht sich auch des entwürdigenden Essverhaltens, das viele seiner Mithäftlinge pflegen. Er macht jede Mahlzeit zu einem ganz besonderen Ritual, einerseits um bewusst zu essen, denn jeder bewusst gekaute Bissen sättigt mehr als ein herunter geschlungenes Mahl, andererseits, um sich seine Würde zu behalten und sich nicht auf das Niveau eines Tieres zu begeben. Ivan nimmt immer seine Kappe ab zum Essen, er legt das Stück Brot auf einen eigens dafür gewaschenen Lappen und er isst auch keine in der Suppe frei herum schwimmenden Fischaugen, sehr zur Erheiterung seiner Kollegen. Alle diese kleinen aber doch so wichtigen Rituale helfen Ivan seine Selbstachtung zu bewahren und auch eine Mahlzeit im Lager, mag sie auch noch so spärlich sein, wie ein Festmahl zu genießen.  

Auch andere Figuren finden ihre Wege, mit der psychischen Zermürbung durch das Lagerleben klarzukommen, beziehungsweise, ihr entgegenzuwirken. Aleša beispielsweise hilft sein tiefer Glaube zu Gott, der ihn niemals an der Sinnhaftigkeit seines Daseins im Lager zweifeln lässt.  

Fetjukov hingegen ist das eindeutige Beispiel für einen zek der bereits jegliche Moral aufgegeben hat. Er ist hinterhältig, rücksichtslos und skrupellos. Er ist sowohl von seiner Arbeit, als auch von seinen Mitmenschen, ja sogar von sich selbst bereits so weit entfremdet, dass er dem Leser wie eine Hülle vorkommt, die nur mehr ums (körperliche) Überleben kämpft aber deren Inneres, deren Seele schon lange tot ist. 

Ein anderer wichtiger Aspekt zum Erhalt der Selbstachtung ist die Einstellung zur Arbeit im Lager (näheres dazu unter Punkt 12.1. „Arbeit als Überleben“).  

Grundsätzlich kann man sagen, ist es das Wichtigste, sich seine Moralvorstellungen und Werte zu bewahren und nicht selbst zu erniedrigen. Natürlich ist genau dies das Schwierigste, denn jeder kämpft im Lager ums Überleben, auch wenn dies auf Kosten der Anderen geschieht, und genau diese Rücksichtslosigkeit ist bereits schon ein Wegwerfen der Moralvorstellungen und eine Zerstörung der sozialen Ordnung und in weiterer Folge, Selbstzerstörung.

 

11.5. Kunst

Grundsätzlich wird die Rolle des Künstlers sehr ironisch und zynisch dargestellt. Ehemalige Künstler pinseln im Lager Nummern auf die Kleidung der Häftlinge oder malen Porträts ihrer Vorgesetzten (vgl. Solženicyn 1999: 32). 

Dunn beschreibt die Rolle der Kunst wie folgt: „Dies ist die reductio ad adsurdum der Kunstpolitik der kommunistischen Partei!“ (Dunn 1988: 43). 

Am Beispiel des ehemaligen Studenten der Literaturwissenschaft Vdovuškin wird die Problematik des Künstlertums in der Sowjetunion angeschnitten. Vdovuškin arbeitet jetzt als Sanitäter in der Krankenstation des Lagers und schreibt nebenher Gedichte. Sein Vorgesetzter, Stepan Grigorjevič, hatte ihm aufgetragen die Gedichte zu schreiben, die außerhalb des Lagers nicht geschrieben werden hätten können. „Stepan Grigorjewitsch war daran gelegen, dass er hier das Zeug schrieb, das er „draußen“ nicht schreiben konnte.“ (Solženicyn 1999: 37) Der Künstler kann also im Lager freier arbeiten, als er es „draußen“ tun könnte. Derselbe Grigorjevič glaubt aber gleichzeitig an „Arbeit als Heilmethode“, er befand, auch die Kranken sollten leichte Arbeit (schwere Wasserkübel schleppen) verrichten. So hat offenbar auch der Doktor verschiedene Auffassungen was Arbeit eigentlich ist (vgl. Dunn 1988: 43). 

In derselben Szene kommt aber auch Ivans persönliche Einstellung zur Kunst zum Ausdruck: „Er [Vodvuškin] machte wirklich etwas aus der Reihe, etwas, womit Šuchov nicht viel anfangen konnte.“ (Solženicyn 1999: 36) Ivan empfindet das Verfassen eines Gedichts also nicht als „Arbeit“ sondern als „etwas aus der Reihe“ das man nicht so ernst nehmen kann. 

Der Chefredakteur der Zeitschrift Novy Mir meinte, in Odin den’ Ivana Denisoviča werden zum ersten Mal Intellektuelle durch die Augen von „normalen“ Menschen gesehen, nicht umgekehrt, so wie es zu der Zeit in den meisten Werken geschah (vgl. Klimoff 1997: 15). 

Solženicyns eigene Einstellung zur Kunst beschreibt Dunn sehr treffend:

Für Solženicyn ist die Kunst viel mehr als die Widerspiegelung einer anderen Wirklichkeit, sie ist eine selbständige Realität und eine Äußerungsform des Menschen als eines von Gott geschaffenen, moralisch begabten, geistig und geistlich befähigten Geschöpfs. Die Kunst ist für Solženicyn ein Geschenk Gottes […] Die Kunst reflektiert Qualitäten und Gesetzmäßigkeiten, die unabhängig von der gegebenen Situation allgemein gültig sind. (Dunn 1988: 101)

11.6. Religion

Der Hauptvertreter des Christentums ist Aleša. Er wird von Ivan und den Anderen geachtet und akzeptiert wegen seiner Moral. Ivan selbst glaubt zwar grundsätzlich an Gott, sein Glaube ist ihm aber im Lageralltag keine Hilfe. Er glaubt nicht daran, dass Gott ihn hierher gebracht hat, wie es Aleša tut. 

Mit dieser Darstellung der Religion widerspricht Solženizyn nicht der sowjetischen Ideologie, in der die Religion keinerlei Stellenwert hatte.

11.7. Politik

Wie bereits angesprochen geht es dem Autor nicht nur um die Darstellung eines Tages im Lager und um das Aufzeigen der dort Vorherrschenden Grausamkeit, Brutalität und Gesetzlosigkeit, sondern gleichzeitig soll auf die Entwicklung in der realen Gesellschaft aufmerksam gemacht werden. Die Existenz solcher Lager wird nicht als etwas Besonderes, Außergewöhnliches dargestellt, sondern es wird aufgezeigt, dass außerhalb dieses abgeschlossenen, von der „wirklichen Welt“ abgeschotteten Bereichs Entwicklungen passieren, die mindestens genauso erschreckend sind, wie ein Tag im Leben eines Häftlings. Konkret angesprochen werden dabei unter anderem die verfehlte Staatspolitik Stalins: Seine Landreform brachte dem Volk vor allem Hungersnöte und Armut. Ivan erzählt in diesem Zusammenhang von der Situation in seinem Dorf. Kaum einer arbeitete noch im Kolchos mit, die meisten lebten zwar nach wie vor dort, verdienten sich ihr Geld aber außerhalb:

Die Hälfte der Kolchosniks war nach dem Krieg nicht zurückgekehrt, und wer zurückgekommen war, wollte mit dem Kolchos nichts zu tun haben – sie lebten dort, verdienten aber ihr Geld irgendwo außerhalb. (Solženicyn 1999: 55)

Eine andere Entwicklung, die Solženicyn anspricht, ist die zunehmende Gesetzlosigkeit, die nicht nur im Lager vorherrschend ist. Sehr genau wird die Gesetzlosigkeit des Lagers beschrieben, aber gleichzeitig wird der Leser darauf hingewiesen, dass Gesetzlosigkeit, Willkür und Machtlosigkeit des Einzelnen keine Eigentümlichkeit des Lagers darstellt, sondern vielmehr in der sowjetischen Gesellschaft zur Normalität geworden ist. Völlig an den Haaren herbeigezogene Anklagen, Gerichtsurteile aufgrund von unter Druck abgegeben Geständnissen, sowie willkürliche Verlängerungen von Haftzeiten – all dies gehört mittlerweile zum sowjetischen Alltag. Und das Schlimmste dieser Entwicklung ist, dass all diese Verbrechen und Gesetzlosigkeiten im Namen eines Ideals begangen wurden.  

Weiters klagt Solženicyn an, dass gute, sowjetische Soldaten, Soldaten die Auszeichnungen und Tapferkeitsorden erhalten hatten (wie Šuchov), vom eigenen Staat zu Kriminellen gemacht wurden. Sie kehrten aus dem Krieg, in dem sie für ihr Land kämpften als Verbrecher zurück. Mindestens ein Viertel der Männer einer Brigade war wegen „Spitzelei“ im Lager gelandet. Meist bedeutete das, dass die Männer irgendwie in Kontakt mit ausländischen Soldaten, oder vielleicht überhaupt nur mit Ausländern gekommen waren – sei es durch Kriegsgefangenschaft oder durch gemeinsamen Dienst auf einem Schiff (wie der Kapitän in Šuchovs Brigade). So erging es auch Ivan und Sen’ka. Sie gerieten in deutsche Gefangenschaft, konnten fliehen und kehrten dummerweise zu ihren Leuten zurück. Daraufhin wurden sie als Spitzel verhaftet und zum Dienst im Lager verurteilt. Solženicyn selbst wurde verhaftet weil man in seinen Sachen Briefe mit angeblich stalinkritischem Inhalt gefunden hatte.

 

12. Die Rolle der Arbeit

12.1. Arbeit als Überleben

Arbeit als Überleben in Odin den’ Ivana Denisoviča